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Achtsamkeitstrend statt Multitasking-Mythos: Zeitschriften profitieren

Folgt man Trendforschern wie Matthias Horx, so gibt es keinen Trend ohne Gegentrend. Multitasking und Mindfulness – deutsch: Achtsamkeit – bieten dafür Beispiele. Nimmt man die Beliebtheit der Suchbegriffe bei Google zum Maßstab, so hatte Multitasking in Deutschland bis 2013 die Nase vorn, wurde dann aber von Achtsamkeit übertroffen (Grafik unten). In den USA erreichte Multitasking – wie in Deutschland – einen Peak um das Jahr 2010. Die meiste Zeit lag aber Mindfulness vor Multitasking. Seit 2012 wächst der Vorsprung.

Dabei basierte der Hype um Multitasking von Anfang an auf einem Irrtum. Der amerikanische Autor und Unternehmer Marc Prensky hatte 2001 in einem Essay die Begriffe Digital Natives und Digital Immigrants geprägt. Prensky schrieb den Jungen, den Digital Natives, neuartige Multitasking-Fähigkeiten zu:

“Digital Natives are used to receive information really fast. The like to parallel process and multi-task. They prefer random access (like hypertext). The function best when networked. They thrive on instant gratification and frequent awards (…) These skills are almost totally foreign to the Immigrants, who themselves learned (…) slowly, step-by-step, one thing at a time …”

Das klang revolutionär nach einem Generationenbruch und irgendwie “disruptiv”, das hatte Pfiff. Die frohe Kunde wurde in den Jahren der Web 2.0-Euphorie von Netzevangelisten über den ganzen Erdball verbreitet, besonders erfolgreich in Deutschland. So stand bei uns sogar noch im Jahr 2010 in einem Buch über Digital Natives und „neue Herausforderungen an die Medienbranche“:

„Multitasking ist eine Zivilisationstechnik, die Digital Natives meist schon von klein auf erlernen. Die zeitgleiche Verarbeitung von Informationen hilft ihnen, die Optionsvielfalt im Medienensemble zu bewältigen, ohne etwas zu verpassen.“

Man staune einmal mehr, wie hartnäckig sich der Obskurantismus gegen die Wissenschaft behaupten kann, wenn er in Gestalt eines geschäftsfreundlichen Narrativs daherkommt. Nach den Erkenntnissen der Neurobiologie ist das menschliche Gehirn, egal ob jung oder alt, zu echtem Multitasking physiologisch gar nicht fähig. Wir können uns nicht auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren. Man hätte sich viel Mumpitz erspart, wenn man beizeiten einen fachlich ausgewiesenen Experten zu Rate gezogen hätte, beispielsweise Gerhard Roth, den langjährigen Leiter des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen. Der hatte schon 1996 im Buch „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ festgestellt:

„Wir können umso mehr Geschehnisse gleichzeitig bewusst verfolgen, je weniger Aufmerksamkeit wir auf sie verwenden; umgekehrt ist die Menge der erfassten Geschehnisse umso kleiner, je aufmerksamer wir sind, d.h. je mehr wir uns auf sie ´konzentrieren´.“

geo-wissen-gesundheitWir können zwar mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, aber nicht mehrere Dinge, die hohe Konzentration erfordern. Wir können Rad fahren und uns dabei unterhalten, wir können eislaufen und Musik hören – allerdings erst dann, wenn uns Rad fahren und Eislaufen so sehr „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, dass diese Tätigkeiten keine Konzentration erfordern. Wer versucht mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, obwohl sie Konzentration erfordern, zahlt dafür stets einen hohen Preis in Form von Zeitverlust oder Fehlerhäufung.

Inzwischen ist das allgemeiner Konsens. „Wir müssen uns selbst disziplinieren und anerkennen, dass Multitasking ein Mythos ist“, erklärt zum Beispiel die aktuelle Ausgabe von GEO Wissen Gesundheit. Zugleich empfiehlt das Magazin die “Mindfulness-Based Stress Reduction” (MBSR – achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), die ein US-Wissenschaftler namens Jon Kabat-Zinn entwickelt hat. happinez_7_2016__achtsamkeit_

Offensichtliche Nutznießer des Achtsamkeitstrends sind sogenannte Mindstyle-Magazine wie Happinez aus dem Bauer Verlag und Flow von Gruner+Jahr. Der Trend zur Achtsamkeit spiele den Verlagen in die Hände, zitiert werben & verkaufen Matthias Horx. Im Kern gehe es darum, dass man das Grundrauschen an Informationen, „die über die digitalen Kanäle noch ein paar Dezibel lauter geworden sind“, auch mal abstelle. Und die Stille genieße. „Lean back statt lean forward“ bekomme einen neuen Stellenwert.

flowNun bilden die Mindstyle-Magazine eine spezielle, relativ kleine Nische des Zeitschriftenmarktes. Der Achtsamkeitstrend ist nicht jeder Fraus Sache, wie taz-Autorin Silke Burmester in einem launigen Beitrag für die turi2 edition kundtut. Aus soziologischer Sicht moniert Hartmut Rosa – hier ein aktuelles Vortragsvideo – die „Selbstbezogenheit“ in der Achtsamkeitsphilosophie. Ungeachtet dessen scheint nach dem grandiosen Smartphone-Boom der letzten Jahre – und nach manchen damit verbundenen Exzessen – generell das Bedürfnis nach einer neuen Medien-Balance zu wachsen.

Bei uns ist u.a. die Debatte über “Slow Media” ein Indiz für die Suche nach einer neuen Balance. Über “Digital Detox“ – wörtlich übersetzt: „digitale Entgiftung“ – wird in den angelsächsischen Ländern diskutiert. Die britische Regulierungsbehörde Ofcom hat darüber für ihren jüngsten Jahresbericht forschen lassen. Man ermittelte, dass ein Drittel der Bevölkerung schon digitales Heilfasten praktiziert hat, zumeist tage- oder wochenweise. Die Probanden berichteten per Saldo über positive Erfahrungen mit der vorübergehenden Stilllegung aller elektronischen Geräte.mack

Andererseits: Man könnte natürlich auch versuchen, sich selbst Regeln des vernünftigen Umgangs mit digitaler Technik aufzuerlegen, auf dass ein Heilfasten gar nicht erst nötig werde. “A digital detox sounds great. But using the internet mindfully is better”, meint eine junge Journalistin beim Guardian.  Wer seit jeher mit dem “digitalen Nirwana” hadert (ein Buch des Soziologen Bernd Guggenberger trug vor Jahren diesen Titel), braucht sich also keine Hoffnungen zu machen: Es geht nicht um ein Roll back, sondern ums Ausbalancieren. Nicht zuletzt bei Digital Natives wie dem 30-Jährigen Daniel Mack. “Wie gut so ein schönes Stück Print in einer klickenden Welt doch tut“, ruft Mack bei Twitter seinen gut 27.000 Followern nach Lektüre der Erstausgabe von Frankfurter Allgemeine Quarterly zu.

 

 

 

 

 

 

2017-09-28T19:26:13+02:00 November 23rd, 2016|Markt-News|0 Comments